Donnerstag, 18. Mai 2017

Der doppelte Boden - Ein Dorf wehrt sich



Ein Kommentar
Autor: Raimund Vollmer

"Etwas ist nicht recht, weil es Gesetz ist,
sondern es muss Gesetz sein, weil es recht ist."

Montesquieu (1689-1755), französischer Staatsphilosoph, der die Grundlagen schuf, auf denen unsere Demokratien basieren

Szene im Radio: Der Journalist las seine vorher schriftlich eingereichten Fragen vor. Der Kämmerer antwortete, indem er seine vorgefasste Stellungnahme ebenfalls vortrug. Ein seltsames Interview. Der Kämmerer hatte Schweißperlen auf der Stirn. Nur ein einziges falsches Wort - und ein zig Millionen schwerer, 500 Seiten starker Vertrag würde ihm und seiner Stadt um die Ohren fliegen. 
Das Recht war auf der Seite der Macht.
Szene im Vereinszimmer: Gestern in Altenburg. Eine Bürgerinitiative namens "Liebenswerter Nordraum", die nach den Worten ihres Vorsitzenden immer dann auftritt, wenn irgendetwas im Ort nicht liebenswert ist, hatte Bürger und Stadträte zu einer Informationsveranstaltung eingeladen. Reutlingen will ein Gewerbegebiet, das es sich mit der Nachbargemeinde Kirchentellinsfurt teilt, massiv erweitern, auf 30 Hektar verdoppeln. Dazu sollte es zuerst einmal in den Flächennutzungsplan aufgenommen werden. Der Bezirksgemeinderat des Dorfes, elf Amateure, hatte in mühsamer Kleinarbeit diesen Vorschlag geprüft und festgestellt, dass diese Erweiterung von vorne bis hinten kompletter Unsinn sei. Er hatte deshalb einen Alternativ-Vorschlag unterbreitet.
Das war fast auf den Tag genau zwei Jahre her. Der kleine Elferrat hatte deshalb gegen eine wie auch immer geartete Prüfung durch Fachleute gestimmt, weil diese genauso unsinnig war wie der Versuch, freie Flächen auf dem Mond daraufhin zu untersuchen, ob sie in den hiesigen Flächennutzungsplan aufgenommen werden sollen. Bei alldem berief sich der Bezirksgemeinderat auf Verträge, die bis in die Zeit der Eingemeindung zurückreichen. Da stand zum Beispiel drin, dass die Altenburger, seit 1972 ein Teilort Reutlingens, die Planungshoheit haben. Nichts dürfe gegen den Willen der Politamateure aus der 1800-Seelen-Gemeinde entschieden werden. 
Mit elf zu null Stimmen hatten sie gegen jedes Prüfverfahren votiert. Doch das Recht schlug sich auf die Seite der Macht.
Der Stadtrat stimmte im Dezember 2016 mit großer Mehrheit für eine Prüfung. Gestern bekundeten CDU, SPD, Freie Wähler, Grüne, Linke (FDP und WIR waren nicht der Einladung gefolgt), dass die Altenburger sehr gute Sachargumente auf ihrer Seite hätten, die gegen eine Einbeziehung des fraglichen Geländes in den Flächennutzungsplan sprechen. Da klang durch, dass sich selbst die Profis in der Prüfungskommission kaum den Argumenten der Amateure verschließen könnten. 
Also: viel Getue um Nichts. Nicht ganz. Oder klarer gesagt: überhaupt nicht.
Denn - so warnten Juristen im Rat und im Publikum des sehr gut besetzten Vereinszimmers - der Bezirksgemeinderat sollte auf sein Recht auf Selbstbestimmung, also auf Planungshoheit, nicht zu sehr setzen.
Da fiel dem Schreiber dieser Zeilen jenes seltsame Interview wieder ein, dass er einmal während einer Autofahrt im damals noch sehr sendeschwachen Deutschlandfunk mit vielen Unterbrechungen gehört hatte. Es ging in der journalistisch höchst spannend vorgetragenen Sendung um Cross Border Leasing. Klamme Kommunen verscherbelten in den neunziger und zweitausender Jahren an amerikanische Investoren für einen Apfel und ein Ei ihre unter- oder oberirdischen Infrastrukturen wie zum Beispiel Kanalnetze oder Straßenbahnen.
Reutlingen hat da nicht mitgemacht, obwohl die Versuchung bestimmt sehr, sehr groß gewesen war.
Die Verträge sind so geheim, dass Stadträte bei deren Begutachtung noch nicht einmal Kopien machen durften. Aber das Geld lockte. So griff man überall in Deutschland zu. Der befragte Stadtkämmerer - er kommt aus dem Rheinland -  hatte inzwischen begriffen, auf was sich seine Kommune eingelassen hatte, wusste, dass ein einziges falsches Wort zu Schadensersatz in Millionenhöhe und anderen Strafen führen konnte. Die Verträge waren wasserdicht. Ihm war klar geworden, dass seine Stadt vor amerikanischen Gerichten noch nicht einmal mehr in Gottes Hand sein würde, sondern dem Teufel ausgeliefert wäre. Das waren absolute Profiverträge, die mit einem Millionenaufwand von den schlauesten Kanzleien der Welt formuliert worden waren. Immerhin ging es ja auch um Staatsgrenzen überschreitende Vermögensübertragungen in dreistelligen Millionenbeträgen - egal, ob Dollar oder Euro.
Bei den Eingemeindungen vor mehr als vier Jahrzehnten ging es auch um Vermögensübertragungen, nicht ganz so hoch und in DM statt in Euro, aber es waren jahrhundertealte Existenzen, die da mit gesetzlichen Druck (bis hin zu Zwangseingemeindungen wie in Rübgarten) übereignet wurden.Alle gehorchten dem Gesetz. Auch Altenburg. Denn das Wort des Gesetzes gilt.
Juristen waren auch beteiligt, aber die waren damals schon mehr auf der Seite der Nehmer, nicht der sich aufgebenden Gemeinde. Was da politisch vereinbart werden würde, um die verletzten Seelen der Bürgermeister und ihrer Dörfer zu heilen, war in Paragraphen gegossene Prosa ohne juristische Relevanz. Das wurde gestern in Altenburg allen Teilnehmern klar. Solange keiner das einklagte, was da auf dem Eingemeindungspapier stand, würde das ja auch keiner merken, dass hinter dem vereinbarten Individual-Recht kein allgemeines Gesetz stand. Denn diese Sonderrechte standen in sogenannten "Absichtserklärungen" mit entsprechendem Status. 

Szene im Radio. Langsam nähert sich das Drama seinem Höhepunkt. Der Journalist erklärt, wie windig die Verträge sind und dass da mit doppeltem Boden gearbeitet wurde. Obwohl zum Beispiel Kläranlagen an die ausländischen Investoren übertragen wurden, fände man nichts darüber in den Grundbucheinträgen der Städte. Denn die Grundstücke seien auf einer Art Erbpacht vergeben worden. Laufzeit: 99 Jahre. Die Investoren hingegen verbuchten die Grundstücke als ihr Eigentum, wurden in den Statistiken gar als ausländische Direktinvestition verbucht. Der Grund: nach amerikanischem Recht war alles, was länger als 25 Jahre im Besitz ist, in Eigentum übergangen - in Deutschland gilt dies erst ab 100 Jahre. So hatte sich das Vermögen gleichsam virtuos und virtuell verdoppelt.Im Grundbuch der Bundesrepublik und im Grundbuch der USA.
Szene im Vereinszimmer. Während die Bezirksgemeinderäte bei ihren wirklich sorgfältig ausgeführten Vorarbeiten immer davon ausgingen, dass der Eingemeindungsvertrag mindestens 99 Jahre halten würde, warnten gestern die Juristen im Publikum und auf dem Podium aus ureigener Erfahrung davor, sich darauf zu verlassen.
Vertreter der Stadtverwaltung, die zu dieser Informationsveranstaltung eingeladen worden war, waren erst gar nicht gekommen. Vielleicht hätten er oder sie auch Schweißperlen auf der Stirn gehabt - wie der rheinische Stadtkämmerer. Dass nämlich die Verträge, die zwischen Stadt und Dorf abgeschlossen worden waren, in der Konsequenz keinen Pfifferling wert sein sollen, war für uns Bürger schon schwer zu verdauen. Die Stadtverwaltung wäre da nicht ohne massive Schelte aus der Veranstaltung herausgekommen.
Die Stadträte vermittelten hingegen den Eindruck, als suchten sie nach einer Lösung, wie sie den Altenburgern Recht geben konnten, ohne selbst das Gesicht zu verlieren. Sie versuchten, doppelten Boden zu gewinnen. Für sich und für Altenburg. Das Schlimmste, was ihnen nach dem gestrigen Abend passieren kann, wäre nun, dass das fragliche Gelände doch zum Zwecke der Gewerbe in den Flächennutzungsplan aufgenommen werden würde. Dann waren ihre Tendenz-Worte gestern Schall und Rauch. Aber gut kommen sie auch nicht weg, wenn es abgelehnt wird. Denn die kleinen Bezirksgemeinderäte hatten ihnen schon vor zwei Jahren klitzeklein erklärt und sachkundig begründet, warum das Grundstück völlig ungeeignet ist. Nur hatten sie die Begründungen wohl nicht gelesen. Es ging ja auch nur um eine Prüfung, die allerdings präjudizierende Folgen haben würde. Und der Spruch, dass der, der prüft, auch bauen will, der klang den Altenburgern noch in den Ohren. Er war in Kirchentellinsfurt gefallen, mit der sich Altenburg das Gewerbegebiet teilt. Dort hatten die Gemeinderäte mit knapper Mehrheit einer Erweiterungsprüfung zugestimmt. 
Nun müssen die Stadträte damit leben, dass sie in der Causa Altenburg von den Bürgern geprüft werden, aber nicht nur hier in diesem kleinen Teilort am Neckar, sondern in allen Bezirksgemeinden. Denn dort wird man sich nun mehr oder minder offen fragen: Was sind unsere Verträge und Vereinbarungen eigentlich noch wert?
Gestern wurde von den Freien Wählern der Vorschlag unterbreitet, das Thema "Gewerbegebiet Mahden" im Rahmen eines Runden Tisches zwischen Stadträte, Stadtverwaltung und Ortschaftsrat zu klären. Dem soll dann eine öffentliche Veranstaltung mit den Beteiligten folgen. Ein entsprechender Antrag wird in den Stadtrat eingebracht. An neuen Fakten wird der Runde Tisch nicht viel bringen. Es ist der Versuch, das Gesicht zu wahren. Und das ist in einer Demokratie auch ein gutes Recht.  
Nachtrag: Die Veranstaltung gestern fand im Namen der Bürgerinitiative "Lebenswerter Nordraum" statt, die das Treffen sehr gut gemeistert hat. Der Autor dieser Zeilen hatte indes vorgeschlagen, dass der Bezirksgemeinderat (Ortschaftsrat) eine solche Veranstaltung im Rahmen einer "Bürgerversammlung" selbst in die Hand nehmen solle. Immerhin habe der hiesige Ortschaftsrat (das ist der juristisch relevante Begriff für Bezirksgemeinderat) die einstimmige Entscheidung gegen die Prüfung vor der Ortsbevölkerung zu verantworten. Es sei sein hoheitliches Thema. Der Autor hat diesen Vorschlag als Mitglied des Bezirksgemeinderates von Altenburg getan. Diese Anregung wurde abgelehnt mit dem Hinweis, die Stadt Reutlingen habe mitgeteilt, dass der Bezirksgemeinderat nicht das Recht habe, eine Bürgerversammlung einzuberufen.
Der Autor hat diese Behauptung recherchiert und in der Gemeindeordnung des Landes Baden-Württemberg den entsprechenden Passus dazu gefunden.  Im Paragraph 20a zum Thema "Einwohnerversammlung" heißt es gleich im ersten Absatz: "In Ortschaften können Einwohnerversammlungen auch vom Ortschaftsrat anberaumt werden, die entsprechend den Sätzen 5 und 6 vom Ortsvorsteher einberufen und geleitet werden; die Tagesordnung muss sich auf die Ortschaft beziehen; die Teilnahme kann auf die in der Ortschaft wohnenden Einwohner beschränkt werden; der Bürgermeister ist in jedem Fall teilnahmeberechtigt; bei Teilnahme ist dem Bürgermeister vom Vorsitzenden auf Verlangen jederzeit das Wort zu erteilen." Der Begriff des "Bürgermeisters" bezieht sich hier nicht auf den "Bezirksbürgermeister", er ist in der Nomenklatur der Gemeindeordnung "der Ortsvorsteher". Gemeint sind mit Bürgermeister tatsächlich die Repräsentanten der Stadtverwaltung mit dem Oberbürgermeister an der Spitze.
Die Rechtsauskunft der Stadt Reutlingen war also offensichtlich falsch, was einen erneut nachdenklich werden lässt.
Übrigens: Bei einer "Bürgerversammlung" hätte ein Vertreter der Stadt wohl kaum eine Einladung absagen können.Und noch etwas: Auf die Frage, was gewesen wäre, wenn der Bezirksgemeinderat nicht vor zwei Jahren "Nein" gesagt hätte, antwortete ein Stadtrat: "Wir müssen dem Bezirksgemeinderat dankbar sein". 
Ich bin stolz darauf, Mitglied dieses Bezirksgemeinderates zu sein.


Bildertanz-Foto:Raimund Vollmer

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wenn wir die richtige Partei wählen, schmeißen wir die Ausländer wieder raus und behalten ihre Investitionen. Vaterlandsverräter werden entsprechend verurteilt.
'schland, 'schland über alles.
Petri heil.

Raimund Vollmer hat gesagt…

Lieber Anonym, ein etwas seltsamer Kommentar...