Montag, 22. November 2010

Vor einem Jahr: Gustav Werner Gelände November 2009

Bild oben:
Die "Brache" um das ehemalige Krankenhaus aus den 1880er Jahren von Gustav Werner.
Bild oben:
Der bis Herbst 2009 genutzte "Schotterparkplatz" auf dem G.-Werner-Gelände.
Bild oben: Das optische verbaut wirkende Tübinger Tor mit 70er/80er Jahre Fußgängersteg über die Konrad Adenauerstraße.


Über Gustav Werner:
Gustav Werner wird am 12. März 1809 als Sohn des Forstkassiers Johannes Werner und seiner Frau Friederike Christiane in Zwiefalten (Württemberg) geboren. 1810 zieht die Familie nach Biberach. Der Vater arbeitet zunächst als Schreibgehilfe. Ihm gelingt im Lauf der Jahre über verschiedene Stationen ein sozialer Aufstieg, bei dem er schließlich Finanzkammerdirektor in Reutlingen wird. Er ist ehrgeizig und fest verankert in einem nüchternen und rationalistischen Gottesglauben, das „Tun des Guten“ (Bartel, s.u., S. 30) ist ihm wichtig. Gustav wird im Alter von 6 Jahren zu den Großeltern gegeben, kommt zwei Jahre später zu den Eltern zurück und geht abermals zwei Jahre danach zu seinem Onkel nach Göppingen, um dort die Lateinschule zu besuchen. 1823 macht er das Landesxamen und wird konfirmiert. Danach besucht er das evangelische Seminar in Maulbronn. In dieser Zeit erlebt er eine tiefe Dankbarkeit und den Wunsch, selbst tugendhaft zu leben.
1827 geht Gustav Werner in das Stift nach Tübingen, um dort Evangelische Theologie zu studieren. Ab 1829 wohnt er bei der Familie Hofacker. Er gewinnt Kontakt zu einem Zirkel, der sich mit den Ideen des schwedischen Naturforschers, Sehers und Metaphysikers (vgl. Bartel, a.a.O., S. 47) Emanuel Swedenborg (1688-1772) beschäftigt. Swedenborgs Theologie, die sich nicht mit der kirchlichen Lehre deckt, seine Betonung der ethischen Handlungsdimension des Glaubens sowie sein Anspruch auf die Wahrheit seiner Erkenntnisse faszinieren Gustav Werner. Dagegen findet er zu der akademischen Lehre der Theologie, die in Tübingen von unterschiedlichen theologischen Schulen vertreten wird, persönlich keinen Zugang. 1832 beendet er sein Studium mit der ersten theologischen Dienstprüfung.
Von Tübingen führt ihn sein Weg nach Straßburg, wo Gustav Werner zwei Jahre verbringt. Er arbeitet dort an einer Bibelübersetzung und gibt Unterricht an einer Knabenschule, widmet sich jedoch vor allem dem Studium und der Übersetzung Swedenborgs. In Straßburg lernt er das Lebenswerk Johann Friedrich Oberlins (1740– 1826) kennen. Oberlin hatte als Pfarrer in seiner Gemeinde im Steintal die Lebensbedingungen von armen und benachteiligten Erwachsenen und Kindern in verschiedenen Bereichen – Erziehungs- und Gesundheitswesen, Landbau, Industrie und Handwerk – nachhaltig verbessert, um so „das wahre Christentum zu realisieren“ (Bartel, a.a.O., S. 68). Auch er war Swedenborgianer. Hier findet Gustav Werner seine bisherige Orientierung wieder und kann sie zum praktischen Handeln hin erweitern bzw. verändern. Im Rückblick berichtet er von der Begegnung mit Oberlin als einer, die sein Leben verändert und es auf seine künftige Grundlage gestellt hat.
Nach seiner Rückkehr beginnt Gustav Werner 1834 ein Vikariat in Walddorf bei Tübingen. Zuvor muss er jedoch die Skepsis der Kirchenleitung überwinden, er werde nichtkirchliche, sektiererische Positionen vertreten. In seinem Vikariat fällt er durch sein großes Engagement auf, er beginnt mit seiner diakonischen Tätigkeit. In Predigten ruft er die Gemeindemitglieder zur Umkehr auf – weg von Selbstgerechtigkeit und Sünde, hin zur tätigen Nächstenliebe. Werner gewinnt Mitarbeiterinnen und gründet 1837 nach dem Vorbild Oberlins eine Kleinkinderschule für die Erziehung Zwei- bis Sechsjähriger und eine Industrieschule, in der Mädchen zum Arbeiten – Häkeln, Stricken u.ä. – angeleitet werden.Werner ermöglicht schon früh der ersten Mitarbeiterin, Marie Agnes Jakob, die Ausbildung zur Kleinkinder- und Industrieschullehrerin. Sie wird durch Unterricht für Kleinkinderlehrerinnen in Tübingen, in textiler Handarbeit in Reutlingen und in religiöser Unterweisung durch Werner selbst ausgebildet.
Zu dieser Zeit beerdigt Werner eine Tagelöhnerin, Mutter von sechs Kindern. Später berichtet er von seinen vergeblichen Versuchen, die verwaisten Kinder bei reichen Familien des Ortes unterzubringen. Als er jedoch selbst eines der Kinder mit Unterstützung seiner Kinderlehrerin aufnimmt, öffnen sich auch andere Familien für die weiteren Kinder. Aus dieser Notsituation entsteht im Haus Gustav Werners eine christliche Lebensgemeinschaft, die Kindern in Not hilft. Diese „Rettungsanstalt“ unterscheidet sich von der ca. 20 Jahre zuvor entstandenen Rettungshausbewegung. Hier steht nicht die institutionalisierte Anstalt, sondern das exemplarische christliche Handeln im Mittelpunkt. Werners Tätigkeit bleibt hierbei nicht stehen, sie geht bald über Walddorf hinaus. Er wird immer häufiger eingeladen, an anderen Orten sein Verständnis der biblischen Aussagen vorzutragen. Dieses Verhalten wird öffentlich diskutiert, wieder mit dem Vorwurf, er verbreite die Gedanken Swedenborgs, und führt zu einem Konflikt mit der kirchlichen Leitung. Gustav Werner legt zu dieser Zeit sein Amt in Walddorf nieder. Der Konflikt endet 1851 mit der Entlassung Werners.
Im Februar 1840 zieht Gustav Werner mit zehn Kindern und zwei Helferinnen in eine 5-Zimmer-Wohnung nach Reutlingen, wo er seine Arbeit fortsetzt. Die Zahl der Mitarbeiterinnen, die freiwillige und unbezahlte Arbeit leisten, wächst. So kann er immer mehr verwaiste und verlassene sowie geistig, seelisch und körperlich eingeschränkte Kinder aufnehmen. 1841 heiratet Gustav Werner die Reutlinger Kaufmannstochter Albertine Zwißler, um den ca. 30 Kindern eine Mutter zu geben. Bis zu ihrem Tod 1882 sind beide Eltern vieler aufgenommener Kinder, jedoch keiner leiblichen. Gustav Werner nimmt diese Erziehungstätigkeit stets verantwortlich wahr, trotz seiner vielen Reisen und der großen Beanspruchung durch das wachsende Werk. Seine Maxime ist persönliche Hinwendung zu jedem Kind, eine Erziehung ohne Zwang. Die so entstandene Hausgemeinschaft finanziert sich durch Spenden und freiwillige Arbeit. In Reutlingen gründen Frauen einen Strickverein mit 80 Mitgliedern und verkaufen ihre Handarbeiten zugunsten von Werners Arbeit. So kann er ein größeres Haus in Reutlingen kaufen. 1842 ziehen Albertine und Gustav Werner zusammen mit 30 Kindern und fünf Mitarbeiterinnen dort ein. Nun finden sich auch erste männliche Mitarbeiter und gründen anstaltseigene Handwerksbetriebe. 1848, im Jahr der Revolution, werden 80 Kinder und erwachsene Hilfsbedürftige in der Anstalt versorgt, erzogen und gepflegt. Was in Werners Familie in Walddorf genossenschaftlich begonnen hat, wird in Reutlingen als „Hausgenossenschaft“ fortgesetzt. Dabei handelt es sich um eine Hausgemeinschaft, die ähnlich wie eine Großfamilie in Gütergemeinschaft zusammenlebt. Die Mitglieder stellen ihren Lohn und ihr Vermögen der Gemeinschaft zur Verfügung und finanzieren sie auf diese Weise. So wird ein Ausgleich zwischen ihnen geschaffen. Werner versteht dies als christliches, gerechtes Handeln. Er leitet patriarchalisch. Diese Hausgenossenschaft wird heute auch als „autonome christliche Genossenschaft“ bezeichnet (Bartel, a.a.O., S. 175).
Viele Menschen, auch Theologen, sind der Meinung, diese Probleme kämen von der technischen Entwicklung. Dem widerspricht Gustav Werner. Er sieht die Ursache der sozialen Not im egoistischen Streben nach Gewinn, das führendes Prinzip der Industrie sei. Dagegen möchte er eine „christliche Fabrik“ setzen, die zum „Tempel“ Gottes werden soll (Bartel, a.a.O., S. 190).
Es ist eine Zeit des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs, in der viele Menschen in Not geraten. Die Industrialisierung verdrängt Handwerker, Tagelöhner, Kleinbauern und viele andere aus ihrer bisherigen Arbeit. Auch Missernten tragen dazu bei, dass noch mehr Menschen hungern und entwurzelt werden. Die Arbeitslosigkeit ist groß. Die Schwächsten leiden am meisten unter der Situation: Kinder und Alte, Kranke, Menschen mit geistigen, seelischen und körperlichen Einschränkungen.

Er kauft 1850 mit geliehenem Geld eine Papierfabrik und überträgt die genossenschaftliche Lebens- und Arbeitsform auf den industriellen Bereich. Vier Ziele Werners können (nach Lunkenheimer, s.u., S. 190) benannt werden: „1. Die Rettungsanstalten sollten finanziell unterstützt werden, um eine finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen. 2. Zöglinge der Anstalten sollten übernommen und ausgebildet werden ...“; um Arbeiter zu qualifizieren. 3. Sogenannte „halbe Kräfte“, wie Werner Menschen nennt, die keine 100% Leistung erbringen können, sollten durch die industrielle Arbeitsteilung in den „regulären Arbeitsprozess“ integriert werden. „4. Allgemein wurde ein gerechtes Gleichgewicht von Arbeit und Kapital angestrebt.“ Das bedeutet: alle Bewohner der Anstalt sollen nach ihrer Begabung in der Fabrik arbeiten und sich so selbst finanzieren. Gerechtigkeit und nicht Ausbeutung soll verwirklicht werden. Gustav Werner plant damit eine modellhafte christliche Alternative industrieller Fertigung zu schaffen. Dies unterscheidet ihn von anderen, die aus ihrem industriellen Ertrag für christlich-soziale Zwecke spenden.
Die Papierfabrik liegt an einem so schmutzigen Fluss (Echaz), dass sie bankrott geht. Werner beginnt 1857 in Dettingen an der Erms eine neue Papierfabrik aufzubauen. Währenddessen hat er in Reutlingen schon weitere Fabriken errichtet: Die anfänglichen Handwerksbetriebe werden zur „Mechanischen Werkstätte“. Gottlieb Daimler leitet sie 1865 bis 1869 und beginnt dort seine Zusammenarbeit mit Wilhelm Maybach; beide erfinden Jahre später gemeinsam das Automobil. Die Mechanische Werkstätte wird zur anerkannten „Maschinenfabrik zum Bruderhaus“. „Bruderhaus“ wird Werners Anstalt seit 1855 genannt. 1884 arbeiten hier 250 Beschäftigte und 32 Lehrlinge in unterschiedlichen Ausbildungen. 1875 beginnt auch eine Möbelfabrik mit der Produktion. Dies sind nur die bedeutungsvollsten Fabriken des Bruderhauses, neben ihnen gibt es zahlreiche kleinere bruderhauseigene Fabrikationsbetriebe in Reutlingen und anderen Orten Württembergs. Werner verfolgt seine Absicht, die soziale Lage der Fabrikarbeiter zu verbessern konsequent und verwirklicht folgende Ziele: „Ausreichender Lohn für alle Beschäftigten, Beteiligung am Ertrag der Arbeit, Begrenzung der Arbeitslast und -zeit, Krankenversorgung zum Lohn hinzukommend, Altersversorgung für alle über 10 Jahre im Bruderhaus Beschäftigten“ (Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus, s.u., S. 22). Außerdem gründet er schon zu Beginn dieser Arbeit Vereine, die die allgemeine Not lindern sollen, z.B. 1851 den „Verein zur Unterstützung auswärtiger Armen und bedürftiger Gemeinden“ und 1852 den „Verein zur gegenseitigen Hilfeleistung“ sowie den „Verein zur Beschäftigung brotloser Arbeiter“.
Im Lauf der Zeit ist das Bruderhaus zu einem großen Werk mit vielen Zweigstellen gewachsen. 1862 ist es auf dem Höhepunkt seiner Ausdehnung, neben dem Mutterhaus in Reutlingen gibt es 24 Zweigstellen. 437 Kinder und 216 erwachsene Menschen mit Behinderungen leben in ihnen. 227 Hausgenossen und 866 weitere Mitarbeiter sind Beschäftigte des Bruderhauses. Werner bürgt bei jeder Neugründung mit seinem Besitz. 1863 kommt es zur finanziellen Krise, er muss beim Amtsrichter seine Vermögensverhältnisse offenlegen. 1866 gründen Freunde einen „Aktienverein zum Bruderhaus“, der alle Häuser und Betriebe Gustav Werners übernimmt, Werner behält die geistliche Leitung.
Nachdem sich so die finanzielle Situation wieder stabilisiert hat, errichtet Werner 1881 im Hinblick auf das Weiterbestehen des Bruderhauses nach seinem Tod die „Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus“. Mit der Gründung der Stiftung wird das genossenschaftliche Modell aufgegeben. Sein Ziel, durch gemeinsames Leben und Arbeiten einen Ausgleich zwischen Menschen in ihrer Verschiedenheit, mit ihren jeweiligen Einschränkungen oder Behinderungen zu schaffen, kann Gustav Werner somit nicht langfristig verwirklichen. 1882 gründet er für Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen, den „halben Kräften“, eine Kartonagen- und Tütenfabrikation, eine Vorläuferin der heutigen Werkstatt für Behinderte. In Reutlingen werden schließlich noch 1883 ein Kinderhaus und 1885 ein Krankenhaus eingeweiht. Gustav Werner ist bereits geschwächt und häufig krank. Am 2. August 1887 stirbt er in Reutlingen.

Zitiert aus:
http://www.planet-schule.de/

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Danke sehr an den Webmaster.

Gruss Nelly